Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen
Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen
Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen? Ein sogenannter Orgasm Gap, eine Orgasmus-Lücke in heterosexuellen Beziehungen ist wohl ein mittlerweile sehr besprochenes Thema. Ausgesagt wird, dass etwa anders als in lesbischen Beziehungen, Frauen in heterosexuellen Sexualbeziehungen deutlich seltener einen Orgasmus beim Sex erreichen. Ist gibt also in homosexuellen Beziehungen für Frauen im Schnitt eine höhere Wahrscheinlichkeit einen Erregungshöhepunkt zu erreichen, als in heterosexuellen Partnerschaften. Es gibt demnach eine Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen.
Einer Studie zufolge erreichen heterosexuelle Männer zu 75 % immer einen Orgasmus beim heterosexuellen Sex, aber nur 33 % der Frauen erreichen immer einen Erregungshöhepunkt beim gegengeschlechtlichen Sex. Hingegen kommen 69 % der Frauen in lesbischen Beziehungen beim Beziehungssex immer. (Vgl. Frederick, D. A., St. John, H. K., Garcia, J. R., & Lloyd, E. A. (2017). Differences in orgasm frequency between gay, lesbian, bisexual and heterosexual men and women in a U.S. national sample. Archives of Sexual Behaviour. doi: 10.1007/s10508-017-0939-z. Zit. nach: Bösch, Joana: Orgasmusstörungen von Frauen nach dem Modell Sexocorporel. Präsentation im Rahmen einer Sexologie-Vorlesung. 20.04.2024, Seite 8. Kurzzit.: Bösch (2024)).
Eine andere Studie gibt Hinweise darauf, mit Blick auf 2026 untersuchte Männer und 2431 evaluierte Frauen, dass Orgasmusstörungen die zweitverbreitetste Sexualfunktionsstörung unter Frauen ist, nach einem verminderten Sexualverlangen. Und es wird darauf hingewiesen, dass Frauen im Verhältnis zu Männern doppelt so häufig von Orgasmusstörungen betroffen sind. (Vgl. Briken P, Matthiesen S, Pietras L, Wiessner C, Klein V, Reed GM, Dekker A: Estimating the prevalence of sexual Dysfunktion using the new ICD-11 guide lines – results of the first representative, population-based German Health and Sexuality Survey (GeSiD). Dtsch. Arztebl Int 2020; 117: 653-8. DOI: 10.3238/aertebl.2020.0653. Zit. nach: Bösch (2024).
Was ist ein Orgasmus?
Was ein Orgasmus ist, unterliegt ein Stückweit auch einer Definition. Nicht immer entspricht der Höhepunkt der Erregung und deren Entladung nach Überschreiten des Point of No Return auf der Erregungskurve (dem Modell des Sexualreaktionszyklus nach Masters und Johnson) einem emotionalen Höhepunkt. Emotional am meisten begehrt werden, kann etwas anderes im Verlauf des partner*inneschaftlichen Sex. Aber ein emotionaler und ein Erregungshöhepunkt kommen durchaus auch als Gemeinsames vor. Folgt man dem Modell Sexocorporel, wird dort davon gesprochen, dass es eine orgastische Entladung gebe und zudem einen Orgasmus. Es klingt fast so wie eine graduelle Unterscheidung, die Menschen m. A. n. vermutlich in ihrem sexuellen Erleben so gar nicht treffen würden. Vgl. externer Link: Website ZISS (Orgasmus).
Der Definition des Sexocorporel nach wäre eine orgastische Entladung das Folgende: „Durch genügend starke sexuelle Erregung ausgelöstes reflektorisches Geschehen mit einer bis mehreren rhythmischen Kontraktionen der Beckenboden- und Abdominalmuskulatur, gefolgt von einem Rückgang der Vasokongestion und einem Absinken des Muskeltonus.“ (Bösch (2024), 14). Ein Orgasmus hingegen wird wie kategorisiert als „Orgastische Entladung begleitet von intensivem emotionalen Erleben, d. h. von Lust und Genussgefühlen, mit emotionaler Entladung.“. (Bösch (2024), 14)
Nicht per se leiden Betroffene unter einer in Relation zu ihren männlichen Sexualpartnern gesehenen eventuellen Minderzahl an Orgasmen. Und es ist außerdem selbstverständlich auch kritisch zu hinterfragen. Ist ein sozusagen orgasmusfixiertes Sexualleben das non plus ultra? Oder oktroyiert eine neue Orgasmusfixiertheit einen Hype nach dem Orgasmus auf? Sehen wir einen Orgasmus aber als ein emotional und körperlich höchst befriedigendes Ereignis an, darf doch die Frage gestellt werde: Woran könnte es liegen könnte, dass es für Frauen in heterosexuellen Beziehungen weniger Orgasmen gibt? Was sind Gründe für eine Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen?
Gründe für Schwierigkeiten mit dem Orgasmus
Angenommen werden – [Anm. d. Verf.: organische und medizinische Gründe müssen ärztlicherseits ausgeschlossen bzw. ärztlich behandelt werden] – psychische Auslöser. Nicht zuletzt Helen Singer Kaplan (Psychiaterin und Sexualtherapeutin, New York) hatte Angst als den Auslöser für Orgasmusschwierigkeiten ausgemacht. (Beier, K. M., Bosinski, H. A. G., Loewit, K. (Hrsg.): Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit. 3. Auflage. München 2021, 256 f. Kurzzit.: Beier/Bosinski/Loewit (2021).) Zu denken wäre aber auch an eine Fähigkeit, sich auf eine intime Beziehung überhaupt einlassen zu können. Zudem sind gegebenenfalls auch ängstliche Selbstbeobachtungen, Erwartungsängste und Ängste vor Kontrollverlusten relevant. Im Hinblick auf Partnerschaften (sozialer Aspekt) gilt, dass von Frauen Orgasmen sowohl in guten als auch in schlechten Beziehungen (nicht) erlebt werden. Das Bild hier ist nicht so klar. (Beier/Bosinksi/Loewit (2021), 256 f.).
Lernschritte im sexuellen Bereich, die immer erlaubt sind
Für den nachfolgenden Teil und die darin enthaltenen allgemeinen Überlegungen gibt es keine empirischen Wirksamkeitsstudien. Aber ich glaube, man darf die nachfolgenden Punkte grundsätzlich für sich durchdenken. Passt etwas für mich? Habe ich daran Interesse, das umzusetzen und auszuprobieren? Alleine? Mit meinem Partner, meiner Partnerin? Was wir – ob Frau oder Mann – in Bezug auf uns als sexuelle Wesen immer tun dürfen, ungeachtet einer bestimmten Sexualproblematik, sind immer Lernschritte der Selbstannahme, Selbst- und Partner*innenerkundung des (eigenen) Körpers und wesentliche Schritte in Richtung einer emotionalen Partner*innenverbindung. Ich werfe die nachfolgenden Überlegungen einfach allgemein in den Raum, für heterosexuelle Paare, die ganz grundsätzlich etwas für ihr gemeinsames Sexualleben tun möchten.
Den eigenen Körper kennen und annehmen
Ich gegen davon aus, dass es grundsätzlich wichtig ist, den eigenen Körper zu kennen, ihn erkundet zu haben. Dazu würde auch gehören, dass man den eigenen Körper als sexuellen Körper versteht und einen emotionalen Bezug zu diesem sexuellen Körper pflegt. Das gilt in besonderem für das eigene Genital, für die Vulva und die Vagina, für ihren äußeren und inneren Bereich. Die Annahme und Bewohnung des Genitals, ein Vetrautsein mit ihm, darf sowohl emotional als auch ganz praktisch erfolgen. Frau darf sozusagen, ihr Geschlecht liebevoll annehmen und mit ihm im Kontakt sein.
Insofern Männer ein anderes Genital haben und auch einen anderen Bezug zu ihm (anschauen, anfassen, Rubbeln, meist mit der geballten Faust) ist der Zugang zum weiblichen Genital noch einmal zu erlernen, emotional und praktisch stimulativ. Und dafür wiederum ist es vielleicht hilfreich, wenn Frau zunächst bereits einen guten Zugang zum eigenen Genital entwickelt hat. Dazu gehört auch, sich mit dem eigenen Genital zu zeigen – was Männern, so vermute ich, mitunter (leider auch im Unguten!) leichter fällt –. Ein Paar könnte sich darauf verständigen, das weibliche Genital miteinander zu erkunden und etwa die Selbtbefriedigungspraxis um den Partner zu erweitern (in seinem Beisein, mit seinem Zutun).
Unterschied zwischen Selbstbefriedigung und penetrativem Penis-Vagina-Sex
Ich darf mich zudem vielleicht umgewöhnen, oder mir den Unterschied im Guten angewöhnen, zwischen der Solosexualität, die vielleicht eher feine Berührungen an Vulva und Vagina kennt, und einem penetativen Penis-Vagina-Sex. Mitunter berichten Menschen, dass sie regelrecht erschrecken und verstört sind, von der Andersartigkeit einer Penetration im Vergleich zur vertrauten Selbstbefriedigung – die nicht immer den vaginalen Innenraum mit einbezieht –. Und das gilt auch andersherum: Vielleicht gibt es Männer, die einfach nur die Penetration gelernt haben, sonst aber wenig liebevolle und gestuft stimulative Fähigkeiten für eine Vulva / Vagina erlernt haben.
Emotionale Verbindung
Und dann wäre da auch noch die emotionale Qualität des Sex, das Sicherheitsgefühl für die Partner*innen, eine emotionale Verbindung und Beziehung, eine Form des menschlichen Inkontaktseins, die es im Erleben einer Person dann vielleicht erlauben „sich fallen zu lassen“ und zu öffnen. „Wer ficken will muss freundlich sein!“ bedeutet in diesem Sinne, dass er (!) zuvor Beziehung und Beziehungssicherheit herstellen darf. Meiner beruflichen Erfahrung nach verstehen Männer mitunter gar nicht, dass das Teil von Verführung und eigentlich auch bereits Bestandteil von Sex ist. Sex beginnt demnach eben nicht erst dann, wenn irgendwer irgendwem etwas reinsteckt. Das emotionale Inkontaktsein darf im Übrigen während des Sex immer wieder überprüft werden. Sind und fühlen wir uns noch verbunden? Was nehme ich war? Augenkontakt? Einen liebevoll zugewandten Gesichtsausdruck? Zärtliche Gesten? Diese emotionale Selbstannahme und Annahme des eigenen Körpers darf durch den Partner, aber insbesondere aber auch durch einen selbst erfolgen.
Notwendigkeit und Motivation für einen Orgasmus hinterfragen
Was eine Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen anbelangt, ist durchaus auch denkbar, dass nicht bei jedem Sex die Frau und der Mann einen Orgasmus anstreben. Die Frau ist vielleicht durchaus zufrieden und fühlt sich befriedigt, auch ohne einen Erregungshöhepunkt mit Entladung. Vielleicht ist dies auch der Fall, wenn es an emotionalen Höhepunkten nicht mangelt und andere qualitative Merkmale des Sex, etwa ein emotionales Verbundensein erlebt wird. Es sollte darauf geachtet werden, ob nicht sozusagen durch die heterozentrierte Erwartungshaltung des Mannes, seine Liebhaberfähigkeiten müssten der Frau einen Orgamus bescheren (zu seiner Selbstvalidierung!), einen psychischen Druck bei der Frau erzeugen.
Hinweis: Bitte klären Sie immer ärztlicherseits ab, ob Orgasmusschwierigkeiten Ausdruck und Folge organischer, medizinischer oder substanzindizierter Gesundheitsprobleme sind. Klären Sie bitte auch ab, ob eine Orgasmushemmung mit einer bestehenden psychischen Erkrankung assoziiert wird.